Abiturientenrede 1973

 

Abiturientenrede 1973
Meine Damen und Herren, liebe Mitschüler!
in einer Feierstunde eine Rede aus der Sicht der Schüler: Das kostet in der Vorbereitung Kopfzerbrechen, wir wollen weder salbungsvolle Feierlichkeit verbreiten ;noch unnütz provozieren, sondern wir wollen, daß man dieser Rede zuhört, nicht, daß Sie vor Schreck weghören oder an Feierlichkeit ersticken. Wir wollen mit dem Abschluß von 13 Schuljahren eine ehrliche Bilanz ziehen. ,wir wollen dabei aber nicht in negativer Kritik steckenbleiben. Wir möchten alle, Eltern, Lehrer und Schüler dazu auffordern, einmal über sich und ihr Engagement für die Schule nachzudenken. Diese Rede wurde von einer Gruppe ausgearbeitet, und zwar von Ernst Rischmüller, Ingeborg Schaefer, Johann Seehusen, Walter Stickan und Werner Voigt.
Wir haben es also geschafft: wir springen jetzt ins Leben, die Industriegesellschaft wartet auf ihre Zöglinge, wartet auf uns, die Gebote des Lebens mit Tafelkreide auf der Stirn. Abiturientenhimmelfahrt . Aber ehrlich, wenn man nach der Schule fragt und wir sachlich und ruhig bleiben möchten, müssen wir ganz tief Luft holen und einiges an nicht gerade positiven Gefühlen verdrängen.
Denn: Die Schule, auch diese, ist krank. Alle haben unter ihr zu leiden: wir Schüler, die Lehrer und die Eltern. Oder gibt es etwa keine Familientragödien wegen einer 5 oder 6? Keine Schülerselbstmorde? Gibt es nicht Lehrer, die kapitulieren vor dem Druck der Schulorganisation, vor den aufgestauten Aggressionen der Schüler, vor den Ansprüchen der Eltern? Nach 13 3chuljahren können wir dazu einiges sagen - zunächst an die Eltern: neben der Schule will vor allem das Elternhaus die Jugendlichen zu vollwertigen Mitgliedern unserer Gesellschaftsordnung erziehen, sie eben einordnen. Die meisten Eltern werden dabei sicher behaupten sie wollten mit ihrer Erziehung das Beste. Das wird von der Mehrheit ehrlich gemeint sein, allein schon die materiellen Opfer sprechen dafür, besonders gilt das für die wenigen Eltern der Unterschicht, die es wagen, ihre Kinder zur Oberschule zu schicken - das darf hier keineswegs unterschlagen werden. Doch wenn Eltern das Beste für ihre Kinder wollen, so kann das nur das sein, was sie für das Beste halten, was sie für sich selber für das beste halten. Nur zu oft

II
soll aus den Kindern das werden, was die Eltern selbst nicht erreichen konnten. Das ist die andere Seite des guten Willens. Allerdings: In den meisten Familien können die Erzieher ihren Kindern immer weniger an Normen vermitteln Sie haben diese Aufgabe verloren an Instanzen wie Mode, Film, Fernsehen und Jugendzeitungen, die aus verschiedensten komnerziellen Gründen an den Jugendlichen interessiert sind und deren Normen sich von denen des Elternhauses unterscheiden. So ist Anerkennung durch Gleichaltrige weithin wichtiger geworden als Verständnis bei Älteren. Unsicherheit in der Weitergabe von festen Orientierungsmustern ist die Folge. Um die eigene Unsicherheit zu verdecken wird dieses Problem allzu oft durch einseitiges Pochen auf Gehorsam zu lösen versucht. Doch das ist gefährlich: Zu Gehorsam und Anstand zu Arbeitsamkeit und Ordnung zu erziehen, hat nur eine Konsequenz: Man schafft kritikunerfahrene Anpasser. Zwar wird Unruhe in Form konsruktiver Kritikfähigkeit heute In SMV-Erlassen der Kultusminister als erste Bürgerpflicht gefordert. Die Verwirklichung dieses Prinzips sieht jedoch in Elternhaus und Schule immer ganz anders aus9 sie stößt auf Widerstände, sehr zum Nachteil demokratischer und aufklärerischer Verhaltensweisen; aber Unruhe steckt, wenn auch oft verborgen, in den Jugendlichen, und wer ihr mit Phrasen wie "in der Mitte light die Wahrheit" oder "Kritik ist das Zersetzende an sich" auf wartet, der zeigt nur blankes Unverständnis.
Das gilt auch für das Verhältnis Eltern-Schüler: Die Eltern sollten ihre Kinder nicht nur der Schule, sondern auch die Schule den Kindern anpassen, wir glauben, daß weder Rahmenrichtlinien noch hochwissenschaftlich fundierte Lehrpläne und Summerhill die Schulsituation ernsthaft verbessern können, solange die Eltern sich nicht abgewöhnen, Schule und Lehrer als unabänderliche, unfehlbare, und unantastbare Institutionen zu betrachten. Hundertfach ist zum Beispiel inzwischen bewiesen, daß Zensuren und Zeugnisse, eher subjektiv als objektiv sind und keinen gerechten Maßstab für die Leistungen des ^
Schülers angeben, doch dazu später.

Wir wollen Eltern, die neben der Sorge um die Kinder nicht vergessen, ihren eigenen Normen und den Einrichtungen, in denen Sie und ihre Kinder leben, kritisch gegenüberzustehen aber wahrscheinlich scheitert alles daran, daß Obrigkeitsgläubigkeit viel bequemer ist als Zweifel.
Nun einige Worte an unsere ehemaligen Lehrer:

III
Lehrer ein ausgewachsener Mensch, dessen Arbeiten man fürchtet, das ist er, ein Zensurengott, der mit Rotstift und Kreide bewaffnet gegen die Kinder ins Feld zieht - ein kaum erreichbares Wesen aus dem geheimnisvollen .Raum hinter der blauen Tür dem Lehrerzimmer. - Ein Klischee, und zum Glück ein sterbendes. Das Bild des Lehrers wandelt sich. Früher waren die Fronten klar: Der Lehrer wußte alles und konnte die Kinder bevormunden. Heute sind die meisten Lehrer bemüht, ihre Schüler weder zu gängeln noch ihnen die Zügel schießen zu lassen, abgesehen von wenigen autokratischen Außenseitern. Sie gehören zu den langsamsten Schiffen im Bildungskonvoi. Eine zunehmende Liberalisierung der Lehrer ist also die positive Seite der Entwicklung in den letzten Jahren: Trotzdem stecken Schule und Lehrer noch in zahlreichen Widersprüchen: So entscheidet die Schule über Chancen im Beruf obwohl sie selber eher lebensfremd ist. Es fehlt im Fächerkanon vieles, was lebensnaher ist als das Nibelungenlied, z. B. Berufs- und Rechtskunde. Und imner noch wird weiterhin Wissen gepaukt obwohl eigentlich das Lernen gelehrt und gelernt werden soll. Auch ist es dem einzelnen Lehrer immer noch freigestellt ob er z. B. in Erdkunde, wenn Brasilien auf dem Lehrplan steht, die Quellflüsse und Hauptarme des Amazonas einpaukt oder die Probleme der dritten Welt erörtert.
Das, was hier "pädagogische Freiheit" genannt wird, macht die Klasse abhängig von den Interessen und auch der politischen Einstellung des jeweiligen Lehrers. Lehrerfreiheit wird zur Schülerunfreiheit. Noch immer gibt es den Frontalunterricht, den schon Johan Amos Comenius vor 100 Jahren so beschrieb:Er (der Lehrer) soll zu niemand besonders gehen und keinen zu sich besonders kommen lassen, sondern auf dem Katheder, wo er von allen gesehen und gehört werden kann, bleiben und wie die Sonne ihre Strahlen über alle verbreiten.
Verhaltenspsychologen haben festgestellt: Autokratisches Verhalten des Lehrers, das durch den Frontalunterricht besonders begünstigt wird, erhöht die Feindseligkeit und die Suche nach Sündenböcken in der Klasse um das 30fache, Lethargie, Konzentrationsmangel und Desinteresse am Unterricht um das 8fache. Leistungsbereitschaft existiertnur noch unter Zwang und läßt ohne Druck schlagartig nach. Als Druckmittel dienen die Zensuren ihr Hauptanspruch ist Objektivität Aber dieser Anspruch ist durch Untersuchungen in der letzten Zeit eindeutig widerlegt worden. Denn: die Bewertungsmaßstäbe sind von Klasse zu Klasse verschieden, die einzelnen Lehrer verwenden unterschiedliche Urteilsprinzipien, die Zensur kann auch bei ein und demselben Beurteiler zu verschiedenen Zeiten verschieden sein. Auch Vorurteile wirken sich aus: So werden schlechte Schüler durchweg schlechter beurteilt als gute - z. B. wurde bei der Überprüfung einer grossen Zahl von Diktaten festgestellt, daß bei „guten" Schülern 39 % der Fehler übersehen wurden, bei „schlechten“ nur 12 %, Wir glauben, die kurzen Hinweise genügen schon; sie zeigen zu deutlich, wie nötig es ist, das Bewerungssystem der Schule zu diskutieren.
Die Lehrer stehen also einer ganzen Reihe von notwendigen Reformen gegenüber. Eltern und Schüler sollten diejenigen mit allen Mitteln unterstützen, die sich trotz überfüllter Klassen um die Verwirklichung dieser Reformen bemühen.
Wir Schüler selbst sollten in dieser Betrachtung nicht fehlen: Den Eltern und Lehrern sind die Jugendlichen vielfach ein Rätsel. Doch wir glauben, so anders sind sie nicht mehr. Nach dem "Schüleraufstand 1968" ist heute wieder für ¾ der Schüler höchstes Lebenssziel der gutbezahlte Job. Das Recht, sachlich begründete Kritik zu äußern, würde, wie das Beispiel Hessen zeigt, gar nicht

kaum genutzt, die Zahl der ernsthaft Engagierten kann man eher in Promille als in Prozent ausdrücken Die meisten Schüler haben ihre Aktivität auf einen kleinen Satz reduziert : "Ich kann ja sowieso nichts ändern, sollen sich doch die "guten" Schüler engagieren, die können sich’ s ja leisten!“) Dies drückt genau das aus, was uns, den Schülern so sehr fehlt: Mut zur Solidarität, Mut zum gemeinschaftlichen Engagement. Die Mehrzahl der Schüler hat sich einfach in die private Idylle der Cliquenwirtschaft zurückgezogen. Freizeit wurde zur Unterhaltung, man sonnt sich im Wohlstand der Väter, während gleichzeitig die Schülermitverwaltung so langsam stirbt - eine allgemeine Lethargie ist ausgebrochen. Schüler engagieren sich nur, wenn ganz persönliche Interessen auf dem Spiele stehen, es sei hier auf die Schülerversammlung im letzten Herbst und ihre klägliche Fortsetzung hingewiesen. Eine der Hauptursachen dieser Fehlentwicklung findet man im Verhältnis Lehrer – Schüler:


Das Beispiel Lehrer/ Schüler bleibt grundlegend:
Der Lehrer hat am Schüler einen bestimmten pädagogischen Auftrag zu erfüllen. Die persönlichen Interessen und Bedürfnisse der Schüler müssen hinter diesen Auftrag zurückgestellt werden. Genausowenig kann der Lehrer seine individuellen Bedürfnisse dem Schüler eröffnen, intensiven persönlichen Kontakt schaffen. Das Verhältnis Lehrer – Schüler bleibt also bei der Sach- und Amtsautorität stecken. Das zurückgestellte Bedürfnis kann nicht befriedigt werden, dies führt zu Ersatzbefriedigungen und Entfremdungen auf beiden Seiten. Die Schüler suchen Ersatz in Cliquen, Brutstätte für neue Frustrationen, im "Schüleranarchismus", in versteckten Angriffen und Diffamierungen der Lehrer, oder widersetzen sich trotzig ihren Ansprüchen durch Schwänzen. Die Lehrer wiederum reagieren mit zunehmender Unsicherheit., man beobachtet sie in Mißtrauen dem Schüler gegenüber, in erhöhter Kritikempfindlichkeit, manche resignieren, andere pochen auf pedantische Autorität. .Beide Seiten verkrampfen in den voneinander entfremdeten Situationen. Die Beziehungen Lehrer Schüler und umgekehrt müssen demnach verändert weraen, zum einen durch personliche Kontakte, zum anderen durch Verbesserungen an der Institution Schule, wie ein neues Bewertungssystem und eine breite Mitbestimmung für Schüler und Eltern. Für die Verbesserung pibt es zwei Alternativen:
1.) Initiative im privaten Bereich, die aber natürlich dem Einzeln«n überlassen werden müßte,
2.) Aufbau von Gruppen von Schülern mit wechselnder Besetzung, die nach Diskussion konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Schulsituation darlegen sollten. Diese Veranstaltungen müssten allen offestehen. So wird, bei weitem der Rahmen der gebrechlichen SMV gesprengt, der für eine Minderheit reserviert war.

Wir müssen klar feststellen, daß weder Lehrer noch Schüler schuld sind an der bestehenden Situation der Institution Schule. Alle, Lehrer, Schüler und auch in gewisser Weise die Eltern sind nur die Leidtragenden der Mechanismen und Forderungen dieser Institution. Doch muß dies erst allen Beteiligten klar bewußt werden, bevor eine allgemeine, gemeinsame Mitarbeit am reformatorischen Umbau der kranken Insüitution Schule einsetzen kann. Nur die gemeinsame Mitärbeit kann verhindern daß dies Utopie bleibt.

gehalten von Werner Voigt

 

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